"Wer bereits als Kind die Welt zwischen den Zeilen für sich entdeckt, geht auch später gern als Abenteurer durchs Leben." {Creativity First}

Donnerstag, 18. Oktober 2012

[News] "Lady in Red" auf dem Lande

Wie vor einem Weilchen versprochen lade ich euch an dieser Stelle in die Rote Beete ein, wo ihr gemeinsam mit Minka van Bommel das Landleben der Ineke Äppelboom einmal näher kennenlernen könnt. 
Die Geschichte selbst stellt in gewisser Weise eine kleine und mit zwinkerndem Auge zu sehende Hommage an das Leben auf dem Land dar. 
Ich persönlich mag das Leben abseits des Großstadtrummels total, ob nun so wie hier angepriesen oder doch in ein wenig abgewandelter Form, das lasse ich gerade einmal dahingestellt sein.
Hier nun also mein Beitrag zum Stadt, Land, ... Frau- Schreibwettbewerb 2012 von neobooks und LovelyBooks
Wer noch einmal lesen möchte, was genau hinter diesem Aktionismus meinerseits steckt, biegt bitte hier ab. ... In diesem Sinne: Frohes Lesen!


Lady in Red

Fröhlich summend krempelte sich Ineke die Ärmel ihrer rot-schwarz karierten Hemdbluse hoch und schloss dann die Tür zur Rote Beete, ihrem eigenen kleinen Geschäft für Bioprodukte aus der Region auf.
Die Rote Beete war der ganze Stolz der jungen quirligen Frau. Und nicht nur das. Das liebevoll geführte Geschäft, das den ungetrübten Geschmack des Landlebens anpries und erfolgreich an den Mann und die Frau in der Gegend brachte, hatte sich als wahrer Glücksgriff für die gesamte Gemeinde entpuppt. „Wem einmal ein Fleck rote Beete anhaftet, wird ihn eben nicht mehr los. Genau aus diesem Grund kommen wir nicht mehr los von deinem Lädchen“, pflegte Landwirt Pretz in bester Manier zu scherzen. Komplimente wie diese machten Ineke natürlich stolz, auch wenn sie ihrer herzlichen Kundschaft meist nur einen bescheidenen Dank entgegnete.
Ineke hatte den ehemaligen Dorfkonsum vor beinahe vier Jahren und im Anschluss an ihr Finanzmanagementstudium übernommen. Nicht, um ihre Kenntnisse knallhart auf dem Markt anzuwenden, sondern vielmehr um sich rebellierend und eine Fahne schwenkend gegen den engstirnigen Wunsch ihres Vaters, der seine Tochter bereits als bissige Börsenmaklerin sah, zu stellen. Und tatsächlich, es hatte gewirkt. Das Gesicht, das ihr Vater machte, als Ineke ihm von ihren Plänen erzählte, ist allein schon ausdruckskräftig genug gewesen, um ohne Zweifel für den nächsten Oscar nominiert zu werden.
Inekes Liebe zum herrlichen Landleben bestand seit dem Tag, an dem sie als Zweijährige beschwingt und kopfüber in einen Kuhfladen auf dem Bauernhof ihrer Großeltern gefallen ist.
Im Gegensatz zu ihrem Vater, der nicht schnell genug die Segel hatte streichen und dem Hof seiner Eltern hatte entfliehen können, blühte Ineke in einem dörflichen Idyll erst richtig auf. Daher kam ihr die Annonce „Biete Dorfladen in hervorragend ländlicher Lage gegen das Wissen um fürsorgliche Weiterführung“ im Tageskurier damals wie gerufen. Oma Isidor, wie die frühere Besitzerin von allen rührig genannt wurde, wollte ihr Lebenswerk einfach nur in guten Händen wissen. Mehr nicht. Seither hatte Ineke zwar eine Generalüberholung und einen leichten Imagewandel hin zur zeitgemäßen Nachfrage nach ökologisch wertvollen Lebensmitteln und Alltagsprodukten vorgenommen, führte die Rote Beete jedoch mit gleicher Hingabe und Herzlichkeit. Die Flitzidee, wie ihr Vater das Geschäft vom ersten Tage an nannte, hatte sich beharrlich verankert und ist Inekes Fels in der Brandung geworden.

***


Mit skeptischem Blick und zusammengekniffenen Mundwinkeln sah Minka van Bommel aus dem Seitenfenster ihres Autos, während das Vehikel dumpf über die Feldsteinstraße ins Dorf hinein holperte und Heiko, ihr Kameramann, im Takt der Radiomusik aufs Lenkrad trommelte.
Minka war der momentane Stern am Himmel des bundesweit größten privaten Fernsehsenders. Sie moderierte nicht nur ein an drei Wochentagen ausgestrahltes Lifestyle- Magazin, sondern führte auch regelmäßig durch große Specials des Senders. Dieses Mal drehten sie und Heiko eine vierteilige Dokumentation, die mit jungen Menschen aufwartete, die in Extremsituationen lebten.
Ehrlich, für Minka bedeuteten Vogelgezwitscher, Traktorgetöse und Latzhose das absolute und wahrlich extreme Kontrastprogramm zu ihrem eigenen Auftreten. Der Filmbeitrag über diese Lady in Red, wie sie in internen Besprechungen genannt wurde, passte dementsprechend perfekt in das Profil der Sendung.
Nervös richtete Minka ihre elegante Hochsteckfrisur und strich sich den apricotfarbenen Blazer glatt, als sie aus dem Auto stieg. Heiko hatte den Wagen allerdings derart gekonnt geparkt, dass sie augenblicklich in eine Pfütze stieg und die Designerpumps sich somit im wahrsten Sinne des Wortes gewaschen hatten. „Herrgott“, grummelte Minka, rief sich im nächsten Moment jedoch dazu auf, um alles in der Welt – komme, was wolle – die Fassung zu bewahren.

***

„Hallo-oo, ist hier jemand“, trällerte Minka beinah übertrieben enthusiastisch, während sie weniger euphorisch durch die weit geöffnete Tür in die Rote Beete schaute. Ihr suchender Blick blieb sofort an einem rustikalen aber zugleich stilvollen Verkaufstresen hängen, auf dem eine scheinbar antike Kasse stand.
„Komm’ nur rein! Nicht so schüchtern, Mädchen!“, entgegnete ihr eine Reibeisenstimme.
Eine Sekunde später erschien hinter dem Regal ein Hüne mit rauschendem Bart, breitem Grinsen und ausgetretenen Gummistiefeln, die Minka gut und gerne als Einpersonenkajak hätte benutzen können.
„Äh, guten Tag“, Minka bemühte sich um Kontenance und versuchte gleichzeitig sich des Kohlgeruchs zu entziehen, den der Korb neben ihr verströmte. „Wir, mein Kollege und ich, kommen vom Fernsehen und sind auf der Suche nach Ineke Äppelboom. Wissen Sie zufällig – “ Doch schon unterbrach der Hüne sie und rief durch eine zweite Tür in den hinteren Teil des Geschäfts: „Hey Kleine, hier sind zwei Herrschaften, die ins Fernsehen wollen. Kannst du denen vielleicht weiterhelfen?“
„Nein, nein, wir wollen nicht ins Fernsehen. Wir kommen vom Fernsehen!“, erklärte Minka zum zweiten Mal und jetzt doch deutlich brüskiert.
„Ach so“, brummte der Hüne gelassen, „wie auch immer, ich muss jetzt los. Meine Liebchen rufen.“
Irritiert warf Minka Heiko einen Blick zu, der die Kamera geschultert hatte und interessiert eine erste Patrouille durch die Rote Beete unternahm. Schließlich entschied sich die Moderatorin zu einem schlichten Lächeln und einem eher einsilbigen: „Na dann, Ihnen einen reizenden Tag.“ Woraufhin der Hüne in Gummistiefeln johlend erwiderte: „Sie sind mir ja eine, reizend. Also dann, reingehau’n Liebchen.“

***

Wenig später, Minka hatte sich gerade von der Begegnung der etwas anderen Art erholt, kam Ineke mit zwei Prachtexemplaren an Zucchini im Arm in den Verkaufsraum geeilt. Ihre Wangen in ein gesundes rosé gefärbt und ein paar widerspenstige Haarsträhnen ins Gesicht fallend. ‚Ach Gottchen, aber auf jeden Fall ein Hingucker’, dachte Minka spitz. ‚Sieh an, sieh an’, sagte sich Heiko in Gedanken und nickte zur Begrüßung positiv angetan.
„Entschuldigen Sie, bitte“, Ineke streifte sich die Hände an ihrer olivegrünen Latzhose ab und begrüßte die beiden dann guter Dinge.
„Keine Ursache, wirklich nicht“, offerierte Heiko rasch.
„Das ist doch nicht tragisch“, ergänzte Minka, „die Gurkenernte geht schließlich vor. Sie züchten wohl besonders gigantische Exemplare? Irgendein Geheimrezept? Vielleicht die gute Landluft?“
„Danke, aber das sind Zucchini, keine Gurken. Die hervorragende Landluft kommt uns wahrscheinlich dennoch zugute“, überspielte Ineke gekonnt den Fauxpas der Moderatorin und strahlte willkommen heißend.
„So, da wären wir nun. Mein Name ist Minka van Bommel und das ist mein Kollege Heiko Trott. Wie verabredet sind wir heute hier, um Sie und die Rote Beete für unseren Sonderbeitrag Leben extrem auf die Bretter, die die Welt bedeuten, zu heben“, erläuterte Minka, die sich nun gänzlich in ihrem Element befand.
„Das freut mich“, entgegnete Ineke, „allerdings sehe ich nicht wirklich einen Zusammenhang zwischen dem Titel Ihrer Sendung und meinen Wirken hier.“
„Ach was“, Minka winkte aufgeregt ab, „nicht so bescheiden. Sie passen in das Format wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Oder sollte ich sagen wie die Karotte in den Gemüseeintopf?“ Sie lachte kurz auf. „Sie sind jung, dynamisch, innovativ und haben sich eben dieser extremen Lebensweise hier verschrieben. Sie sind unsere Frau!“
„So, so“, Ineke musterte die sich in Rage redende Moderatorin mit den himbeerpinken Lippen und den spinnenbeinlangen Wimpern aufmerksam, „Jung – das passt. Dynamisch – wenn Sie so wollen. Innovativ – in gewisser Weise. Aber was bitte meinen Sie mit extremer Lebensweise?“ Neugierig und in sich ruhend erwartete Ineke die Antwort. Immerhin war das nicht die erste nette, jedoch zutiefst unwissende Person, die ihr mit einem derart verschrobenen Weltbild argumentierte.
Minka trat einen Schritt näher an Ineke heran und sprach in einem ruhigen, nahezu verschwörerisch wirkenden Ton auf sie ein: „Nun, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Sie müssen zugeben, dass Sie doch einen recht unkonventionellen Lebensstil pflegen. Als Absolventin einer Elitehochschule haben Sie sich entschlossen, dem pulsierenden Stadtleben samt all dessen Optionen auf Karriere und flippiger Vielfalt in Sachen Freizeitgestaltung den Rücken zuzukehren. Sie haben eisernen Willen und Biss bewiesen und haben sich eigenständig ihre eigene kleine Oase, wie sie es in unserem ersten Telefongespräch genannt haben, geschaffen. Hier inmitten eingefleischter, traditionsbewusster Landwirte, die einem ungehobelt daherkommen können. Sie verzichten auf jeglichen Luxus und arbeiten hart für ein eher durchschnittliches Einkommen. Soziale Kontakte müssen Sie entbehren und unterhaltsame Abende in gepflegter Gesellschaft sind rar. Wir denken schon, dass das alles extreme Bedingungen sind und Ihre Rote Beete daher für unser Format wie gemacht ist.“
Am liebsten hätte Ineke schallend losgelacht. Doch sie wollte der guten Frau nun auch nicht in ländlicher Holzhammermanier vor den Kopf stoßen, sonst hätte sie all jenen drolligen Unsinn gegebenenfalls noch bestätigt gesehen. Daher beschloss Ineke, die doch innerlich sehr schmunzeln musste, diplomatisch vorzugehen.
„Vielleicht sollte ich uns erst einmal einen Milchkaffee machen und dann können wir meine Extremsituation hier vor Ort vielleicht mit ein wenig mehr Gelassenheit nochmals erörtern.“
„Nun ja, äh, gerne. Milchkaffee klingt … wie soll ich sagen … Milchkaffee klingt stilvoll“, erwiderte Minka und schaute Hilfe suchend zu Heiko.
„Genau, ich stimme euch beiden zu. Erst einmal einen Milchkaffee in aller Gelassenheit und dann sieht die Welt schon ganz anders aus“, pflichtete der Kameramann entschlossen bei.
„Prima, ich bin in einem Moment zurück. Sie können sich derweil gerne ein wenig umsehen. Lassen Sie es mich nur wissen, falls Sie Interesse an einer Zucchini, einer Gurke oder einem Glas Holunderblütengelee haben.“ Grinsend verschwand Ineke hinter dem Vorhang aus laminierten Postkarten aus aller Welt.

***

Minka und Heiko nutzten die Gelegenheit und sahen sich im Geschäft um und nahmen dabei schon den ersten Einspieler für die spätere Sendung auf.
„Einen wunderschönen guten Tag liebe Zuschauerinnen und Zuschauer daheim vor den Bildschirmen. Mein Name ist Minka van Bommel und Sie schauen unser Special zu Leben extrem. Gemeinsam mit uns sind Sie heute zu Gast im beschaulichen Heuhausen, wo es sich eine taffe junge Frau zur Aufgabe gemacht hat, die hiesige Landbevölkerung mit allerlei Köstlichem und Behaglichen vom Lande zu versorgen.“ Minka sprach selbstbewusst in die Kamera und hielt dabei abwechselnd ein Glas eingelegter Tomaten und einen kuscheligen Wollschal ins Bild. „Während ihre Altersgenossen unbeschwert das Großstadtflair genießen oder um die Welt jetten, stellt Ineke Äppelboom sich einem Alltag, in dem Kohlköpfe, Wind-und-Wetter-Creme und Möchtegerncasanovas – Minka dachte dabei unwillkürlich an diesen Hünen und seine Liebchen – ihr Leben bestimmen. Extreme Bedingungen, denen sich diese sympathische Frau entgegenstellt. Aber sehen Sie selbst.“ Gegebenfalls noch ein Schnitt und im Nachhinein würde hier der Filmbeitrag eingearbeitet werden.

***

Als Ineke wenig später drei große Tassen Milchkaffee und einen Teller mit frischen Quark-Kirsch-Waffeln durch das Geschäft balancierte, lief Minka das Wasser im Mund zusammen. Köstlich duftete das. Sie hätte es nicht für möglich gehalten hier, in dieser doch recht beschaulichen Gegend – und das war milde ausgedrückt – einen derart modernen Imbiss serviert zu bekommen. Irgendwie hätte sie doch eher auf Kamillentee und staubtrockene Mandelplätzchen gewettet. ‚Nun ja, unverhofft kommt oft’, dachte sie bei sich und schlürfte genüsslich an der Tasse, die Ineke ihr gereicht hatte.
„Himmlisch“, entfuhr es der verdutzten Moderatorin, als sie in die hauchzarte Waffel biss.
„Nicht wahr“, entgegnete Ineke, „das Rezept habe ich von Anton, unserem Milchbauern.
Dessen Bekanntschaft haben Sie vorhin doch bereits gemacht.“
Minka verschluckte sich beinahe an ihrem Stück Waffel und funkelte Heiko an, als dieser verschmitzt hinzufügte: „Das haben wir wohl, stimmt’s, Liebchen?“
Ineke lachte. „Ja, ja, der Anton – harte Schale, butterweicher Kern. Er und seine Milchkühe, seine Liebchen, sind ein Herz und eine Seele. Liegt in der Familie, die Mertensens haben alle ein Herz aus Gold.“
„Wunderbar, da Sie gerade von Herzensangelegenheiten sprechen, frage ich Sie doch gleich einmal: Was hat Sie denn bewogen in eine solch abgelegene Wallach-, also, in diese wahrscheinlich märchenhafte Gegend zu ziehen?“ Inzwischen hatte Minka sich einigermaßen gefasst und klimperte nachdrücklich mit ihren Wimpern.
„Wissen Sie, ich liebe das Landleben seit jeher. Und nach meinem Studium bot sich die einmalige Chance die Rote Beete zu übernehmen. Hier kann ich all das verwirklichen, was ich in der Enge einer betonierten und asphaltierten Großstadt mit Sicherheit nicht könnte. Ich bin frei und unabhängig, kreativ und kommunikativ. Ich kann experimentieren und fühle mich geborgen. Jeder Tag ist eine Herausforderung, das leugne ich nicht, und gleichzeitig doch ein Genuss für alle Sinne. Die Rote Beete ist ein Ort, mit dem sich Jung und Alt gerne identifizieren. Das freut mich besonders und unterstreicht für mich die Richtigkeit meiner Entscheidung“, erklärte Ineke nicht ohne Stolz in der Stimme.
„Fabelhaft. Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, sie fristen keineswegs das Dasein einer jungen, den Widrigkeiten trotzenden Einsiedlerin?“
Jetzt musste Ineke wirklich schallend auflachen. „Ganz und gar nicht. Aber machen Sie sich nichts draus, von meinem Vater habe ich damals ähnliche Argumente, oder sollte ich besser sagen Horrorszenarien, vorgelegt bekommen. Ich versichere Ihnen, hier geht es rund. Die Rote Beete ist der Treff schlechthin. Ich bin sozusagen Ernährungsberaterin, Vertrauenslehrerin, Nachrichtensprecherin und gute Fee zugleich.“
„Ich verstehe“, sagte die Moderatorin leicht aus dem Konzept gebracht, „und worin besteht für Sie dann das Extreme in ihrem Leben auf dem Lande?“
„Sagen Sie es mir! Sie schienen mir doch recht überzeugt von meinem Leben am Rande des Erträglichen“, erwiderte Ineke beschwingt und sah im Augenwinkel, dass Heiko nun auch schmunzelte. „Okay, nun mal ernsthaft. Ich liebe die extrem klare Luft am Morgen, die extrem ausgeglichenen Menschen, die extreme Geschmacksvielfalt unserer hausgemachten Produkte, die extreme Kommunikationsfreude der Nachbarn, die extrem schillernden Gesänge der Vögel, den extremen Genuss selbst gepflückter Blaubeeren, die extreme Freiheit, die Rote Beete ganz nach meiner eigenen Facon führen zu können, die extreme Neugier und Begeisterung der Kinder, wenn sie Schmetterlingen über Feld und Flur nachjagen, die extreme Gastfreundschaft des hiesigen Gasthauses, die extreme Ruhe meinen Gedanken nachgehen zu können, die extrem sternenklaren Nächte, die extreme Feierlaune unseres Stammtisches, die extrem leckeren Plundertaschen von Oma Irmchen nach Hausfrauenart, ach ja, und gelegentlich tatsächlich auch die extrem gut ausgebaute Schnellstraße Richtung Stadt“, endete Ineke zufrieden ihre Ausführungen. „Ich hoffe, das ist Ihnen fürs Erste genügend Extremes und nah am Limit Gebautes und eventuell auch etwas ordentlich Risikobehaftetes.“ Die junge Frau grinste.
„Absolut!“, brachte Minka van Bommel hervor, „Sie haben es auf beeindruckend präzise Weise auf den Punkt gebracht. Ich danke Ihnen für dieses überaus deutliche Statement.“
„Das Vergnügen war ganz meinerseits. Ehrlich, habe mich lange nicht mehr derart amüsiert. Vielleicht sollte ich doch mal wieder in die Stadt kommen.“ Ineke lächelte vergnügt.

***

Zwei Wochen nach dem Interview, wurde nun die Dokumentation über die Rote Beete ausgestrahlt. Gespannt auf das, was das Fernsehteam zusammengebastelt hatte, machte es sich Ineke mit molligen Wollsocken an den Füßen und einer Tasse Rhabarbertee in den Händen gemütlich. Und dann begann auch schon die Sendung. Sogleich strahlte ein ihr wohlbekanntes freundliches, wenn auch mit einem deutlichen Übermaß an Rouge versehenes Gesicht in die Wohnzimmer der Zuschauer.
„Guten Abend liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Mein Name ist Minka van Bommel und ich präsentiere Ihnen heute einen exklusiven Blick hinter die Kulissen eines extrem beneidenswerten Lebens. Lehnen Sie sich zurück und lassen Sie sich inspirieren. Hier folgt nun unsere neuste Folge zum Senderspecial Leben extrem“, Minka legte eine winzige Kunstpause ein, „extrem sympathisch.“ Und schon folgte der Beitrag, der mit einer Nahaufnahme einer grasenden Kuh begann. Dieses markante Klischee hatte wohl einfach nicht fehlen dürfen.
Ineke lehnte sich zurück – obwohl sie das eher an die Ansage in einer Achterbahn erinnert hatte – und blickte interessiert auf den Bildschirm ihres Fernsehers.
Die liebliche Stimme Minka van Bommels untermalte die Filmsequenzen. … „Einfältig oder gar öde waren gestern. Flexibel und facettenreich präsentiert sich das Landleben heute. Die ambitionierte Finanzmanagementabsolventin Ineke Äppelboom zog es in ein kleines beschauliches Idyll, weil sie dort ihren Traum verwirklichen kann.“ … „Während die meisten in ihrem Alter rote Beete nur als Haartönung kennen oder gar für eine neue Punkband halten, managt Ineke Äppelboom ihr eigenes Business: die Rote Beete, ein hippes Biogeschäft, in dem knackige Zucchini, cremiger Honig und sahnige Milch über den Ladentisch wandern.“ … Ineke musste an sich halten. Minkas Kommentare klangen irgendwie zu gut für diese Welt. Beinahe vermisste Ineke diesen gewissen ironischen Unterton. … „Das Glück, sich die eigeneFreiheit bewahren zu können und dabei in einer Gemeinschaft zu leben, in der man aufeinander zählen kann, und in der der Bauer noch all seine Liebchen, pardon, all seine Kühe mit Namen kennt, das weiß Ineke Äppelboom zu schätzen.“ … Mittlerweile prustete Ineke los. Wenn sie nicht dabei gewesen wäre, als Minka sich naserümpfend im Geschäft umgesehen und sie misstrauisch angeschaut hatte, als sie ihr versicherte, Anton sei ein Gemütsbolzen schlechthin, wäre dieser Beitrag nur halb so drollig gewesen. Minka schien das Landleben nahezu anzupreisen. … „Wo, wenn nicht auf dem Land, können motivierte, kreative und dynamische Freigeister sich besser entfalten? Probieren Sie es aus: Tauschen Sie doch auch einfach einmal das künstliche Raumspray gegen den Duft reifer Äpfel, die Karottenhose gegen eine fesche Wathose, das Glätteisen gegen das Waffeleisen – “ … Ineke traute ihren Ohren kaum. … „– und tauchen Sie ein in eine Hülle und Fülle aus urigen Traditionen und modernen Gepflogenheiten. Neue Gesichter, wie das von Ineke Äppelboom, und ein markiges Image, wie das des Biogeschäfts Rote Beete, prägen das Landleben von heute. Wie wäre es mit der Devise „Landflucht einmal umgekehrt – Wir fliehen raus auf das Land“?
Baff starrte Ineke im ersten Moment auf den Fernseher. Dann stellte sie sich Minka van Bommel in Latzhose und Blaumann vor, die gerade dabei war, sich eine Riesengurke – oder war es eine Zucchini – in Scheiben zu schneiden und sich diese auf die mit türkisem Lidschatten geschminkten Augenlider legte. Herrlich, einfach nur herrlich abgedreht.


© Kora Kutschbach