Autismus. Eine Diagnose, die alles verändert. Ein Schicksal, das viele Familien teilen. Dennoch ist eine gesellschaftliche Akzeptanz, ein gemeinschaftliches Miteinander vielerorts noch keine Selbstverständlichkeit. Ein Aspekt, an dem Jodi Picoult ansetzt. Doch, wie so häufig, geht die Autorin darüber hinaus.
Wieder einmal rüttelt sie fulminant an den Grundfesten unserer Lebenseinstellung. Nicht ohne Grund und mit beständiger Vehemenz.
Wieder einmal rüttelt sie fulminant an den Grundfesten unserer Lebenseinstellung. Nicht ohne Grund und mit beständiger Vehemenz.
~ Rezension ~
Der schmale Grat zwischen Anderssein und Tätersein
Der schmale Grat zwischen Anderssein und Tätersein
Emma
und ihre beiden Söhne Jacob und Theo führen ein Leben, das ihnen
über die Jahre hinweg vor allem eines eingebracht hat: Blicke, die
von Mitleid bis Entsetzen reichen. Denn Jacob leidet am
Asperger-Syndrom, das eine Art des Autismus’ ist. Er ist hochintelligent,
besessen von forensischem Wissen und hat einen Humor, der trockener
nicht sein könnte. Doch ebenso reagiert er auf emotionale Signale
überhaupt nicht und auf die kleinsten Veränderungen in seinem
Umfeld hingegen hypersensitiv. Dies macht ihn für Außenstehende zu einer
tickenden Zeitbombe. Als eines Tages Jacobs Erzieherin Jess, eine der
wenigen Bezugspersonen des Teenagers, ermordet aufgefunden wird,
gerät die Welt aus den Fugen. Für Jacob. Für Emma. Für Theo. Denn
die Anklage gegen Jacob scheint ein fataler Irrtum. Doch Beweise
lügen nicht. Jacob allerdings ebenso wenig. Denn stets die absolute
Wahrheit sagen zu müssen, ist Teil seines Krankheitsbilds. Ein
Kampf David gegen Goliath beginnt.
Mit
In den Augen der anderen
setzt Jodi Picoult
ein ausdrucksvolles Ausrufezeichen hinter die wichtigen, uns alle
betreffenden Thematiken „Integration und Inklusion“. Anhand eines
fiktiv kreierten Schicksals betont sie beispielhaft, dass es auch und
vor allem in der Realität keinen reinen Schwarz- oder Weißton gibt.
Filigran,
behutsam und nichtsdestotrotz schmerzhaft ehrlich portraitiert Jodi
Picoult die Figuren ihres Romans: Die liebende Mutter, die vor den
Scherben ihres Lebens steht und dennoch kämpft wie eine Löwin. Der
an Autismus leidende Junge, der die Welt nicht so wahrnimmt wie die
Menschen um ihn herum. Der jüngere Bruder, den Pflichterfüllung und
Erwartungsdruck zermürben.
Fundierteste
Recherchen und eine empathischen Art schicksalshafte Dramen auszugestalten, die den
Atem anhalten lassen, führen dazu, dass die Autorin
mit diesem Buch ins Mark trifft. Sie schaut hin, wo andere wegsehen –
in vielerlei Hinsicht. Sie taucht die Hintergründe eines
Krankheitsbilds, von dem viele Familien betroffen sind, in die
größtmögliche Bandbreite an Schattierungen. Dadurch wird beinahe
investigativ ein Gesamtbild geschaffen, das berührt.
Jodi
Picoult fokussiert die Tatsache, dass nicht nur der Asperger-Patient
selbst Betroffener ist, sondern dessen gesamte Familie. Diesen Radius
zu ziehen, finde ich ausgesprochen wichtig. Denn während sich der
Betroffene mit seiner Krankheit arrangiert haben mag, ist es sein
unmittelbares Umfeld, das das entgegengebrachte Unverständnis
emotional verarbeiten muss.
Als
wäre die Thematik des Asperger-Sydroms allein nicht schwere Kost
genug, ergänzt die Autorin diese um den Fall einer Mordanklage. Ein
Gerichtsprozess, dessen Für und Wider allen Beteiligten in den
Knochen steckt und den Leser auffordert, das eigene Verständnis
hinsichtlich Recht und Unrecht zu beleuchten.
In
der Summe ein Roman, der mit brachialer Schwere Einzug in die
Bücherregale der Leser hält. Manchmal genügt ein kleiner
Perspektivwechsel und schon verstehen wir einander besser. Eine
Botschaft, der Jodi Picoult Nachdruck verleiht.
F★ZIT: Ganzheitlich. Präzise.
Eindringlich.