"Wer bereits als Kind die Welt zwischen den Zeilen für sich entdeckt, geht auch später gern als Abenteurer durchs Leben." {Creativity First}

Dienstag, 13. Januar 2015

[Rezension] In den Augen der anderen (Jodi Picoult)

Jodi Picoult: In der Augen der anderen 

Autismus. Eine Diagnose, die alles verändert. Ein Schicksal, das viele Familien teilen. Dennoch ist eine gesellschaftliche Akzeptanz, ein gemeinschaftliches Miteinander vielerorts noch keine Selbstverständlichkeit. Ein Aspekt, an dem Jodi Picoult ansetzt. Doch, wie so häufig, geht die Autorin darüber hinaus.
Wieder einmal rüttelt sie fulminant an den Grundfesten unserer Lebenseinstellung. Nicht ohne Grund und mit beständiger Vehemenz.


~ Rezension ~

Der schmale Grat zwischen Anderssein und Tätersein

Emma und ihre beiden Söhne Jacob und Theo führen ein Leben, das ihnen über die Jahre hinweg vor allem eines eingebracht hat: Blicke, die von Mitleid bis Entsetzen reichen. Denn Jacob leidet am Asperger-Syndrom, das eine Art des Autismus’ ist. Er ist hochintelligent, besessen von forensischem Wissen und hat einen Humor, der trockener nicht sein könnte. Doch ebenso reagiert er auf emotionale Signale überhaupt nicht und auf die kleinsten Veränderungen in seinem Umfeld hingegen hypersensitiv. Dies macht ihn für Außenstehende zu einer tickenden Zeitbombe. Als eines Tages Jacobs Erzieherin Jess, eine der wenigen Bezugspersonen des Teenagers, ermordet aufgefunden wird, gerät die Welt aus den Fugen. Für Jacob. Für Emma. Für Theo. Denn die Anklage gegen Jacob scheint ein fataler Irrtum. Doch Beweise lügen nicht. Jacob allerdings ebenso wenig. Denn stets die absolute Wahrheit sagen zu müssen, ist Teil seines Krankheitsbilds. Ein Kampf David gegen Goliath beginnt.

Mit In den Augen der anderen setzt Jodi Picoult ein ausdrucksvolles Ausrufezeichen hinter die wichtigen, uns alle betreffenden Thematiken „Integration und Inklusion“. Anhand eines fiktiv kreierten Schicksals betont sie beispielhaft, dass es auch und vor allem in der Realität keinen reinen Schwarz- oder Weißton gibt.

Filigran, behutsam und nichtsdestotrotz schmerzhaft ehrlich portraitiert Jodi Picoult die Figuren ihres Romans: Die liebende Mutter, die vor den Scherben ihres Lebens steht und dennoch kämpft wie eine Löwin. Der an Autismus leidende Junge, der die Welt nicht so wahrnimmt wie die Menschen um ihn herum. Der jüngere Bruder, den Pflichterfüllung und Erwartungsdruck zermürben.

Fundierteste Recherchen und eine empathischen Art schicksalshafte Dramen auszugestalten, die den Atem anhalten lassen, führen dazu, dass die Autorin mit diesem Buch ins Mark trifft. Sie schaut hin, wo andere wegsehen – in vielerlei Hinsicht. Sie taucht die Hintergründe eines Krankheitsbilds, von dem viele Familien betroffen sind, in die größtmögliche Bandbreite an Schattierungen. Dadurch wird beinahe investigativ ein Gesamtbild geschaffen, das berührt.

Jodi Picoult fokussiert die Tatsache, dass nicht nur der Asperger-Patient selbst Betroffener ist, sondern dessen gesamte Familie. Diesen Radius zu ziehen, finde ich ausgesprochen wichtig. Denn während sich der Betroffene mit seiner Krankheit arrangiert haben mag, ist es sein unmittelbares Umfeld, das das entgegengebrachte Unverständnis emotional verarbeiten muss.

Als wäre die Thematik des Asperger-Sydroms allein nicht schwere Kost genug, ergänzt die Autorin diese um den Fall einer Mordanklage. Ein Gerichtsprozess, dessen Für und Wider allen Beteiligten in den Knochen steckt und den Leser auffordert, das eigene Verständnis hinsichtlich Recht und Unrecht zu beleuchten.

In der Summe ein Roman, der mit brachialer Schwere Einzug in die Bücherregale der Leser hält. Manchmal genügt ein kleiner Perspektivwechsel und schon verstehen wir einander besser. Eine Botschaft, der Jodi Picoult Nachdruck verleiht.

F★ZIT: Ganzheitlich. Präzise. Eindringlich.