"Wer bereits als Kind die Welt zwischen den Zeilen für sich entdeckt, geht auch später gern als Abenteurer durchs Leben." {Creativity First}

Freitag, 25. April 2014

[Rezension] 434 Tage (Anne Freytag)

Anne Freytag: 434 Tage 

Wie es sich wohl anfühlt, wenn dich eine Entscheidung, die du vor Jahren mit dem Kopf, aber nicht mit dem Herzen getroffen hast, unerbittlich einholt? Bekommst du eine zweite Chance oder hat die Zeit alles dir Vertraute zur Unkenntlichkeit verzerrt?
Fragen, denen sich Anne Freytag in einem brisanten Kontext stellt, der Verlangen und Vernunft zu zwei immerwährenden Kontrahenten macht.
Danke schön für ein Buch, welches mit Liebe geschrieben über die Irrungen und Wirrungen selbiger erzählt!

[Buchcover: Freytag Literatur]


~ Rezension ~

Der Punkt, an dem du dich entscheiden musst ...

Anja ist glücklich. Allerdings nur in Julians Gegenwart. Die beiden verbindet ein sehr besonderes Band aus Höhen und Tiefen. Dass Anja seit Jahren mit Tobias verheiratet ist und sich mit ihm eine sichere Existenz aufgebaut hat, versucht sie in den Nächten mit Julian zu verdrängen. Ebenso wie die Tatsache, dass ihr Tobias als betrogener Ehemann zwar leid tut, der Fakt, dass sie ihren sie bedingungslos liebenden Mann hintergeht, jedoch keine Schuldgefühle in ihr weckt. Anja steckt in einer Krise, obwohl ihre Erfüllung so nah liegt. Sie muss endlich einen Schritt vorwärts gehen. Daher trifft sie eines Abends eine folgenschwere Entscheidung, welche die Narben der Vergangenheit aufreißt und im gleichen Atemzug neue Wunden zum Brennen bringt. Ein hoher Preis als Einsatz in einem Spiel mit dem Feuer.

Mit 434 Tage erzählt Anne Freytag eine Liebesgeschichte, die resolut vom Weg der Tugend abweicht und nichtsdestotrotz dabei die Nuancen der Zwischenmenschlichkeit in vollem Facettenreichtum zum Klingen und Nachhallen bringt.

Offensiv und unverblümt zieht die Autorin ihre Figuren in einen emotional aufwühlenden Strudel aus unbändiger Anziehungskraft und Seelenverwandtschaft, aus moralischer Unanständigkeit und Aufrichtigkeit auf Raten.
Während es ein Leichtes wäre, die Protagonistin Anja als undankbare Übeltäterin abzustempeln, umrahmt Anne Freytag das Porträt dieser mit menschlichen Schwächen und Eingeständnissen, die schlussendlich für Schattierungen aller Gefühlsebenen sorgen. Nicht minder kontrastreich werden die beiden männlichen Rollen, Julian und Tobias, ausgestaltet. Die Verteilung von Sympathie und Antipathie scheint rasch geklärt. Doch auch hier weiß Anne Freytag gekonnt Fäden zu spinnen, die eine klare Sicht der Dinge zu verhindern wissen.

Als beeindruckend empfinde ich (wieder einmal) Anne Freytags prägnante Stilistik und die entschlossene Ausführung dieser. Die Quintessenz des Romans ließe sich auf eine pointierte Kernaussage herunterbrechen. Doch dass es weder ein blütenreines Weiß noch ein gestochen scharfes Pechschwarz gibt, stellt die Autorin mit ihren Ausführungen unter Beweis. Vielmehr jongliert sie mit Gewissensfragen, Moralvorstellungen und unter die Haut gehenden Empfindungen. Dabei entstehen von Kapitel zu Kapitel neue Mosaike, die durch Intensität bestechen.

Sowohl der Moralapostel als auch der erhobene Zeigefinger fallen in diesem Roman unter den Tisch. Stattdessen wird eine Vielseitigkeit dargeboten, die Fassaden zum Einsturz und Perspektiven zum Blühen bringt. Indem Anne Freytag Thematiken wie Vertrauensbruch, Betrug und Verrat bei der Wurzel packt, berührt sie auf polarisierende Art und Weise und bringt somit Gedanken ins Rollen.

Alles in allem ein Roman, dessen Liebesgeschichte das Überraschungsmoment ausgefeilt darzustellen weiß und dessen kribbelnde Ungewissheit packt. Kopf oder Herz? Vernunft oder Sehnsucht? Anne Freytag initiiert Stimmen, deren Echo kakofonisch oder eben harmonisch klingt. Warum sich festlegen, wenn Konformität in einem Falle wie diesem eher einengt?

FZIT: Nah. Ballastreich. Pikant.